Wimbledon-Halbfinalist Lorenzo Musetti: Die Kunst des Pokerspielers (2024)

Um halb zwölf am Donnerstag bog Veronica Confalonieri um die Ecke. Diesmal schob sie und nicht ihr Lebenspartner den Kinderwagen mit dem vier Monate alten Ludovico, der selig schlummerte und nichts mitbekam vom Trubel, den sein Vater selbst hier, an diesem für die Öffentlichkeit unzugänglichen Ort, auslöste.

Lorenzo Musetti hatte sich gerade auf einer Matte gedehnt; nun schlenderte er auf dem Weg zu einem der Trainingsplätze in dem nur Spielern und Anhang vorbehaltenen Aorangi Park auf der Wimbledon-Anlage an seiner jungen Familie vorbei. Beziehungsweise: Er wollte. Viele der Juniorinnen und Junioren, die in der zweiten Turnierwoche im All England Club ihre Wettbewerbe austragen, baten Musetti um ein Selfie. Er steckte kurz fest. Vier Fernsehkameras verfolgten ihn ebenfalls, eine vor ihm, drei hinter ihm. Und, scusi!, noch einer, der ein Selfie wollte. Musetti schaffte es schließlich mit Verzögerung auf den Court 1.

Alexander Zverev in Wimbledon

:Als wäre er Charlie Brown, den das Pech verfolgt

Alexander Zverev hat auch im achten Versuch das Viertelfinale in Wimbledon verpasst. Die Selbstzweifel, vielleicht nie ein Grand-Slam-Turnier gewinnen zu können, sind nun so groß wie noch nie beim 27-Jährigen.

Dass die Blicke auf ihn gerichtet sind, daran wird er sich gewöhnen müssen, der Italiener aus der Toskana. Er ist jetzt als Tennisprofi auffällig geworden: Erstmals steht der 22-Jährige im Halbfinale einer Grand-Slam-Veranstaltung, keinen Geringeren als den 24-maligen Grand-Slam-Sieger Novak Djokovic aus Serbien fordert er an diesem Freitag heraus. Seit dem Turnierstart am 1. Juli weiß die Branche zwei hervorstechende Dinge über Musetti: Er tritt sehr zuvorkommend auf. Außer er nimmt seinen Tennisschläger in die Hand. Dann mutiert er zum Trickser.

Fünf Gegner sind schon an ihm verzweifelt. Noch zwei mehr, und er wäre Champion. Das würde einer mittleren Sensation gleichkommen. Musetti ist alles andere als ein typischer Rasenspieler, er hat bis zum vorigen Jahr, obwohl konstant in den Top 30 der Weltrangliste, wenig auf diesem speziellen Belag zustande gebracht, auf dem nur für ein paar Wochen im Jahr gespielt wird. Er gilt aber auch als Tüftler – und so hat er in dieser Saison seinen Anti-Rasen-Stil verfeinert und schafft es jetzt, seine unzähligen Schlagtechniken, die er wie ein Pokerspieler hervorzaubern kann, im Sekundentakt anzuwenden. Beim Vorbereitungsturnier in Queen’s hatte er prompt das Finale erreicht.

Musetti, mal Magier, mal Künstler, ziert auch Hochglanzmagazine

Auch in Wimbledon sieht sein Spiel spektakulär aus, so etwa bei einem langen Ballwechsel im Viertelfinale gegen den Amerikaner Taylor Fritz, der zuvor Alexander Zverev bezwungen hatte. Es kamen vor: Rückhand cross und mittig, Rückhand mit Topspin und fiesem Tatjana-Maria-Gedächtnis-Slice, Vorhand mit Topspin und in mehreren Winkeln, Vorhandstopp, cross gezirkelt und akrobatisch im Rückwärtsfallen. Den Punkt gewann er mit einem Volley-Passierball kurz vor der Grundlinie stehend, als Fritz am Netz stand.

„Wenn Kunst Gestalt annimmt“, dichtete der italienische Tennisexperte Luca Fiorino zu jener Sequenz, als habe er ein Werk Michelangelos betrachtet. Beim Sender Tennis TV haben sie ihn den „Magier“ genannt. Er ist eine Attraktion, absolut, auch äußerlich, es zierten schon Modelfotos von ihm die Titelseiten von Hochglanzmagazinen.

Musetti hat seinen einzigartigen Spielstil früh entwickelt. „Schon als Kind mochte ich es nicht, immer das Gleiche zu tun auf dem Platz, nicht mono-automatisch zu spielen“, sagte er. Roger Federer, stets der lässigste Akteur, war sein Idol, nicht ganz zufällig wählte Musetti die einhändige Rückhand wie der Schweizer. Früher, sagt Musetti, habe er fast nur mit Unterschnitt, dem Slice, auf der Rückhandseite agiert; als Kind hatte er zunächst Mühe, über den Ball drüber zu schwingen beim Topspin. Als er es konnte, katapultierte ihn das in der Jugend bis auf den ersten Weltranglistenplatz, er gewann 2019 den Juniorentitel bei den Australian Open.

Wimbledon-Halbfinalist Lorenzo Musetti: Die Kunst des Pokerspielers (2)

Musetti wuchs, das erzählte er mit Stolz, in Carrara auf, sein Vater Francesco verdient wie so viele in der Gegend sein Geld in der Marmorbranche, Mutter Sabrina ist Sekretärin; den kleinen Lorenzo habe sie früher jeden Tag zum Training nach La Spezia gefahren, 30 Minuten hin, 30 zurück. „Das war ein großes Opfer. Ich schätze die Hilfe meiner Eltern sehr“, sagte Musetti. Wie wichtig ihm seine Familie ist, hat er auch auf seiner Haut festgehalten, er hat den Begriff eintätowiert, samt einem Ankersymbol. Loyal ist er sowieso, seinen Trainer Simone Tartarini hat er an der Seite, seit er ein Junge war.

Zwei weitere Tattoos schmücken ihn noch. „Das bekannteste ist das mit meiner Herzschlagfrequenz und dem Schläger in der Mitte“, erklärte er, es prangt am linken Unterarm. Sein Onkel ist Kardiologe, er hatte ihn gebeten, seinen Herzschlag aufzuzeichnen. Und ein gestochener Schriftzug lautet „Il meglio deve ancora venire“, das Beste kommt noch. Als Musetti davon berichtete, machte er eine Pause und fügte grinsend hinzu: „Heute, kann ich sagen, kommt es.“ Da hatte er noch nicht einmal sein Viertelfinale gewonnen.

Novak Djokovic hat er schon mal besiegt, 2023 in Monte Carlo. Bei den French Open vor fünf Wochen führte er in der dritten Runde mit 2:1 Sätzen und verlor nachts um 3.08 Uhr. Die beiden kennen sich gut. Musetti traut sich zweifellos Großes zu, und das darf er auch – aus einem Grund: „Das habe ich wahrscheinlich mehr für mich gefunden, so zu spielen, dass nicht jeder Schlag von mir gleich ist. Das ist unangenehmer für die anderen.“

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